Stellen Sie sich mal folgende Situation vor:
Eine entfernte Bekannte kontaktiert Sie nach einem guten Jahr mal wieder. Sie sprechen über die aktuellen Geschehnisse und tauschen sich darüber aus, wie es jedem damit geht. Sie freuen sich über den netten Plausch. Nach dem 5-minütigen Warm-up-Small-Talk kommt ein rapider Themenwechsel und sie erzählt Ihnen voller Euphorie von ihrer angehenden Nebenberuflichkeit (irgendwas mit Abnehmen) und wie vielversprechend das alles sei. Gerade sei sie dabei, Kunden zu gewinnen. Doch da das ja so schwierig sei, dachte sie, Sie könnten ihr vielleicht helfen und Ihr Netzwerk zur Verfügung stellen und sie weiterempfehlen. Das Business wäre natürlich absolut vertrauenswürdig und lukrativ.
Wie würde es Ihnen damit gehen? Was würden Sie denken?
Bei mir hat es dazu geführt, dass ich zunächst völlig überfahren war und gar nicht recht wusste, ob ich wütend, verärgert, enttäuscht oder alles auf einmal sein sollte. Meine Gefühle haben mich quasi übermannt und ich hatte den Eindruck, ich könne nichts dagegen tun. Ob und wie stark wir auf bestimmte Situationen reagieren, ist nämlich abhängig von in der Kindheit geprägten Abneigungen und Vorlieben, die uns oft nicht bewusst sind. Das heißt im Umkehrschluss, dass eigentlich nicht die Umstände selbst die Gefühle von Stress, Wut, Ärger, Traurigkeit oder Angst auslösen, sondern unser Verstand ein größeres Wörtchen mitredet. Denn der Verstand bewertet die jeweilige Situation bzw. den dahinter stehenden Reiz und beeinflusst damit die emotionale Reaktion wesentlich!
Und genau da liegt auch der Lösungsansatz: Denn wir sind dem Prozess nicht einfach ausgeliefert. Ganz im Gegenteil: Wir können unsere Gefühle durchaus kontrollieren, zumindest bis zu einem gewissen Grad (bei homöostatischen Prozessen, wie Hunger funktioniert das übrigens nicht), wenn wir die eigene Aufmerksamkeit bewusst lenken und Reize auf günstige Weise interpretieren. Wir verändern also bewusst unsere eigene Bewertung und beeinflussen unsere emotionale Stabilität und unsere Psyche im Positiven. Das zeigen unter anderem Untersuchungen mit insgesamt 2000 Versuchspersonen (Psychotherapy Reasearch 10.1080/10503307.2020.1871524, 2021). Diejenigen, die annehmen, das Denken spiele eine stärkere Rolle bei der Entstehung von Gefühlen, waren emotional stabiler und hatten insgesamt weniger ausgeprägte psychische Probleme. Diejenigen, die hingegen glaubten, bestimmte Umstände riefen zwangsläufig negative Emotionen hervor, waren impulsiver und leichter zu ängstigen.
Ein wichtiger Faktor bei der Umdeutung und Neuinterpretation der Reize ist dabei unsere Sprache. Nur, wenn wir unsere Gefühle in Worte fassen können, können wir sie wirklich verstehen und für uns neu ordnen.
Eine schöne Übung hierfür ist folgende:
- Nehmen Sie sich eine Stoppuhr, einen Block und einen Stift zur Hand. Stellen Sie den Timer auf 2 Minuten. Versuchen Sie nun innerhalb der zwei Minuten so viele Emotionen wie möglich auf einem Blatt Papier zu notieren. Es ist ganz egal, ob Sie hierfür Substantive (Wut), Adjektive (wütend) oder eine Mischung davon verwenden. Notieren Sie einfach alles, was Ihnen in den Sinn kommt.
- Legen Sie den Stift nach den zwei Minuten zur Seite, atmen Sie tief durch und gehen Sie in Ruhe durch Ihre Liste: Wie geht es Ihnen damit? Was fällt Ihnen auf? Bei welchen Emotionen sind Sie sprachlich versiert? Wo hingegen fehlt es Ihnen an sprachlichen Ausdrücken?
- Nehmen Sie im Anschluss jede Emotion genauer unter die Lupe: Wie fühlt es sich bei Ihnen an, wenn Sie wütend sind? Wie würden Sie den Unterschied zu Ärger beschreiben? Wie zeigt sich Trauer bei Ihnen? etc. Wenn die Konzentration schwindet oder Sie müde werden, führen Sie die Übung ruhig zu einem späteren Zeitpunkt oder an einem anderen Tag fort.
Mit der Übung bekommen Sie einen Überblick, welche Emotionen Sie bereits verinnerlicht haben und wo Ihnen noch die Versprachlichung fehlt. Für den weiteren Umgang ist es dann allerdings entscheidend, dass Sie Ihre, vor allem negativen Gefühle in ihrer Gesamtheit zulassen, annehmen und anerkennen. Doch Vorsicht! Das heißt nicht, dass Sie nun Jedem Ihre Gefühle sofort und unverblühmt mitteilen müssen, um authentisch zu sein. Es sei denn, sie wollen emotional aufgeladene Konflikte heraufbeschwören. Oft ist das berühmte eine-Nacht-drüber-schlafen oder der tiefe Atemzug dann doch der bessere Ratgeber. In dem geschilderten Fall habe ich das übrigens auch genutzt. Erst als mir selbst klar war, welche Emotionen bei mir hervorgerufen wurden und wie ich sie selbst bewertet hatte, habe ich meiner Bekannten meine Wahrnehmung rückgemeldet. So ließ sich die Situation ohne größere Problematik klären und wir beide konnten aus der Situation etwas lernen.
Und genau darum geht es doch! Das Leben als ewigen Lernprozess zu verstehen und anzunehmen! Und auch wenn uns negative Emotionen unsere Nerven rauben können, sind genau das die Situationen, von denen wir am meisten lernen und an denen wir am meisten wachsen können. Oder etwas weniger ernsthaft formuliert: Wenn Ihnen das Leben also das nächste Mal Zitronen schenkt, fragen Sie einfach nach einem Schuss Gin! :)
In diesem Sinne, viel Freude beim lebenslangen Lernen wünscht Ihnen
Ihre
Barbara Ries
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